„LUCIO SILLA ist ein Stück über die große, die unerfüllte Sehnsucht. Sehnsüchte, die unerfüllt bleiben bis zum Schluss. Und über die Leidenschaften, die die Menschen im Grunde genommen zerreißen und am Ende buchstäblich verbrennen. Ich glaube, dass wir in der Musik von Mozarts Sehnsucht nach Erlösung hören - und wenn man nicht durch die Liebe erlöst werden kann - dann durch den Tod. Wir erlösen uns in der Musik." Olga Motta über ihre Inszenierung.
Olga Motta zitiert Mozart in einem Brief an seinen Vater am 4. April 1787:
„ ... – da der Tod |: genau zu nemmen :| der wahre Endzweck unsers lebens ist, so habe ich mich seit ein Paar Jahren mit diesem wahren, besten freunde des Menschen so bekannt gemacht, daß sein Bild nicht allein nichts schreckendes mehr für mich hat, sondern recht viel beruhigendes und tröstendes! und ich danke meinem gott, daß er mir das glück gegönnt hat mir die gelegenheit |: sie verstehen mich :| zu verschaffen, ihn als den schlüssel zu unserer wahren Glückseeligkeit kennen zu lernen. – ...“
In der Inszenierung von Olga Motta finden die Personen Erlösung von ihren unerfüllbaren Sehnsüchten im Tod. Wir und auch Lucio Silla selbst, der in Olga Mottas Deutung als einziger überlebt, finden Erlösung und Trost in der Musik.
Dies mag auf den ersten Blick verstörend wirken, findet doch in der Originalfassung der Oper niemand den Tod, gibt es doch ein glückliches Ende, das alle Paare und den - nun großmütigen - Herrscher glücklich vereint. Doch diesem der Konvention einer opera seria folgenden "lieto fine" misstraut Olga Motta. Wohl sicher nicht zu unrecht!
Olga Motta stellt dieses Ende an den Anfang ihrer Inszenierung. Eingerahmt in einem goldenen Bilderrahmen, stilisiert zu einem pathetischen Herscherportrait, steht Lucio Silla inmitten seines Volks, geliebt von seinen Untertanen, die beiden Paare glücklich vereint zu seinen Füßen. Doch vor diesem Bilderrahmen ist ein Schleier und das Bild wirkt verschwommen, trübe, so als gäbe es noch eine weitere (Bild-)Ebene, eine andere Wahrheit zwischen diesem „Wunschbild" und uns, die wir es betrachten. Vor diesem Bild steht, es ebenso betrachtend wie wir, eine schwarze Gestalt.
In der Hannoveraner Inszenierung ist dies Aufidio, ein Vertrauter Sillas, der in einer Sprechrolle, die einzelnen Szenen verbindet. In der Deutung von Olga Motta ist Aufidio ein hoffnungslos entseelter Mann, vom Leben und der Liebe enttäuscht und verbittert: „Diese Leidenschaften - sie brennen und verglühen - lodernde Feuer, Kerzenflammen, funkelnde Glut, bis zum bitteren Ende ... und in allem wohnt --- der Tod."
In der Stuttgarter Inszenierung ist diese schwarze Gestalt der Tod selbst. Das Licht in dem goldenen Rahmen erlischt, der Tod wendet sich uns zu, betrachtet uns, und zieht dann eine Pfeife hervor, die er entzündet. Unmittelbar erhellt eine große Flamme den schwarzen Bühnenraum und erlischt wieder, so als ob all unser Streben und Sehnen nach Glückseligkeit, nach Liebe und Zärtlichkeit am Ende mit dieser letzten Flamme verlöschen würde.
Nach diesem vorweggenommenen Ende beginnt Olga Motta mit der Erzählung der Oper.
Mozart komponierte seine Oper LUCIO SILLA im Alter von 16 Jahren, und es mag verwundern, wie ein so junger Mensch eine Musik erfinden konnte, die so hoch dramatisch und leidenschaftlich die Tiefe dieser Liebesgefühle und Sehnsüchte darzustellen vermag. Doch wenn wir uns vorstellen, wie die Gefühlswelt eines Heranwachsenden erschüttert wird, wenn er zum erstenmal die Größe, die Gefahr und die Leidenschaft einer Liebe empfindet, die wie ein Feuer in ihm zu brennen beginnt, so können wir es uns vielleicht erklären. The first cut is the deepest.
Die Helden der Oper sind alle in Liebe und Sehnsucht verstrickt und brennen tatsächlich vor Leidenschaft. Und so hat jede Figur in der Inszenierung von Olga Motta ihr eigenes Feuer:
Lucio Silla ist schwach in seiner unerfüllten Liebe zu Giunia und muß doch stark sein als Herrscher und seine Macht gebrauchen. Sein Feuer, in seinem zerreißenden Kampf zwischen Gefühl und Härte. ist die Stichflamme.
Giunia trauert um ihren von Silla gemordeten Vater und ihren verbannten Geliebten Cecilio. Sie hasst Silla. Sie will lieber sterben, als Silla lieben. Ihre Sehnsucht ist der Tod. Und sie trägt das Totenlicht.
Cecilio ist noch ein Jüngling. Giunias Liebe ist zu groß für ihn. Er fühlt sich vor allem ihrem Vater verpflichtet und will ihn rächen. Sein Feuer, eine sprühende Wunderkerze, flackert nur, und er weiß es nicht zu gebrauchen - und schon gar nicht Giunia zu wärmen.
Celia ist die warmherzig Liebende im Stück. Ihre Liebe ist ganz rein, sowohl zu ihrem Bruder Silla, als auch zu ihrem Geliebten Cinna, dem sie ihre Liebe nicht gesteht. Sie ist die Hüterin des wärmenden Herdfeuers.
Cinna ist der Revolutionär. Er brennt für seine Ideen, trachtet nach politischen Veränderungen und will Silla stürzen. Sein Feuer ist die Zündschnur, die anderes und andere entflammen will. Aber wärmen kann auch sein Feuer nicht.
Alle fünf Personen der Oper befinden sich so in einer eigenen und völlig anderen Gefühlswelt, und auch wenn alle miteinander verstrickt sind, so ist doch jeder zugleich allein und isoliert, gefangen in seiner eigenen Welt. Die Darstellung der Gefühlswelten der fünf Figuren und damit die Erfahrbarkeit ihrer Gemütszustände, die in der Musik von Mozart ihren wunderbarsten Ausdruck finden, ist das zentrale Anliegen von Olga Mottas Inszenierung.
„Das Feuer spricht und fliegt, es singt." Gaston Bachelard
Olga Mottas Bühnenbild ist einfach: Eine schwarze Gassenbühne, die am Ende des zweiten Aktes zu einer komplett offenen Bühne wird und den Blick auf die Theatertechnik freigibt. Die Sänger tragen sehr farbige, barock anmutende Kostüme, Lucio Silla eine römische Rüstung. Die Konzentration des Betrachters fokussiert sich in diesem größtenteils schwarzen Raum vollkommen auf die Sänger, die in ihrer Farbigkeit zu leuchten scheinen. Sie 'erscheinen' geradezu. In bestimmten Szenen verstärkt Olga Motta dieses Leuchten durch den Einsatz von UV-Licht. Diese Beleuchtungstechnik, die sich auch in früheren Arbeiten Olga Mottas finden lässt, bekommt durch das flackernde Feuer eine weitere, eindringliche Komponente.
Der Versuch Olga Mottas, die Personen und ihre Empfindungen in den Mittelpunkt des Bühnenerlebnisses zu stellen, und dies weniger durch eine szenische Handlung in einem wie auch immer angedeuteten oder abstrakten Bühnenbild darzustellen, findet also hier seine genaueste Entsprechung. Die Interpretation Olga Mottas ist demnach eine sehr, vielleicht sogar eine rein bildliche. Als Inspiration für ihre Bühnenbilder nennt Olga Motta den spanischen Maler Francisco de Zurbarán, der seine Portraits und Stilleben in realistischer Lichttechnik mit dramatischen Helldunkeleffekten vielfach vor dunklem Hintergrund abbildet. Dieses Konzept kann freilich nur aufgehen, wenn die Darsteller in der Lage sind, ihren Rollen durch ihr körperliches und mimisches Spiel eine überzeugende und emotionale Kraft zu verleihen, die die Musik eben nicht nur hörbar, sondern vor allem auch fühlbar macht. Nicht zuletzt setzt dies auch ein großes Vertrauen der Sänger in die Regie voraus, ohne das ein solch „verletzliches" Spiel nicht möglich wäre.
Ein weiterer prägender Aspekt der Inszenierung ist, neben - dem Finale am Beginn der Oper - die Schlussszene. Hier lässt Olga Motta die „Pupille-amate‟-Arie des Cecilio noch einmal a capella von Lucio Silla singen. Enden lässt Sie die Oper dann mit einem anderen Werk von Mozart, dem zweiten Satz des Klarinettenkonzertes. Zitate sind in Film- und Bühneninszenierungen bekannte künstlerische Ausdrucksmittel. Ein musikalisches Zitat in einer Operninszenierung ist jedoch sicherlich nach wie vor ungewöhnlich und zeigt Möglichkeiten auf für neue Wege künstlerischer Interpretation von Musiktheater.
Am Ende sterben die Liebespaare. Cinna, der Revolutionär ist tödlich getroffen: „Die Tyrannen sollen Tod und Stricke fürchten, im Angesicht des Todes lache nur, wer keine Schuld im Herzen trägt." Celia, die ihm ihre Liebe nicht mehr gestehen konnte, folgt ihm. Cecilio sinkt in den Armen von Giunia nieder: „Geliebte Augen, ihr lasst mich sterben, noch ehe ich sterbe." Giunia birgt ihn in ihrem Schoß: „Ich wanke schon, die Kräfte schwinden, ich sterbe und eile, dem verstorbenen Liebsten als treuer Schatten zu folgen."
In der Interpretation von Motta sterben die Figuren nicht, um der Handlung zu einem wahrhaft dramatischen Ende zu verhelfen. Olga Motta beruft sich auf die Musik und auf das Libretto, und sie folgt ihrer anfangs zitierten Grundidee. Die Liebenden, deren Lieben sich im Leben nicht erfüllen konnten, erlösen sich im Tod. Sie sterben, um sich zu erlösen. Zurück bleibt der einsame Imperator Lucio Silla, der ohne Rüstung die Bühne betritt, auf die Knie sinkt und noch einmal die letzte Arie von Cecilio - „Pupille amate" - ohne Orchesterbegleitung singt. Lucio Silla erlöst sich in diesem Lied, das er wie ein Schlaflied singt, wie ein Vater am Bett seiner vier eingeschlafenen Kinder.
Die Szene bleibt ganz still, es erklingt eine Klarinette, und wir hören das Klarinettenkonzert von Mozart, eine der letzten Kompositionen aus Mozarts Todesjahr, die die Melodie der „Pupille-amate"-Arie des Cecilio wieder aufnimmt. Und so spannt sich ein Bogen vom jungen zum alten Mozart, vom Beginn bis zum Ende!
Und dann kommt der Tod auf die Bühne. Dieser Tod wirkt ganz zärtlich und mitfühlend. Es ist kein Tod, vor dem wir uns fürchten. Behutsam bedeckt er die Toten mit großen weißen Leinentüchern. Das Licht ändert sich und die Oberfläche der Tücher beginnt zu leuchten, sie verwandeln sich und sehen am Ende aus wie große weiße Felsen.
Und in diesem ergreifenden Moment erlösen wir uns in der wundervollen, traurigen und gleichzeitig tröstenden Musik des Klarinettenkonzertes. Kurz vor dem Ende verlischt das Not- und Treppenlicht im Zuschauerraum, und es bleibt nichts, als das Leuchten der Schlussszene aus dem tiefschwarzen Bühnenraum in den völlig dunklen Zuschauerraum hinein. Und dies ist zweifelsohne ein großartiger Opern-Augenblick voller Poesie und tief empfundener Musik!
Thilo Nass
Angela Beuerle in einem begleitenden Text zur Inszenierung:
„Als Ziel der Tragödie, als welche das dramma per musica zu verstehen ist, nennt Metastasio (Dichter und Librettist 1698-1782) in Anlehnung an Aristoteles die katharsis, die Läuterung der Seele des Zuschauers ... und schließlich gehört zur opera seria auch das ethische Konzept der compassio, der süßen Tränen, der Läuterung der Seele durch die mitfühlende Anteilnahme am Leid anderer - eine Idee, die bereits in Mittelalter und früher Neuzeit im religiösen Kontext zu finden ist.
... Die Gelegenheit einer solchen Erfahrung gibt diese Inszenierung. Und während das goldgerahmte „lieto fine" am Anfang des Abends deutlich werden lässt, wie viel (Opern-) Geschichte zwischen uns und einer Zeit liegt, die eine Tragödie programmatisch mit einer frohen Lösung aller Konflikte beschließen konnte, werden wir vielleicht am Ende verstehen, warum es eine Läuterung der Seele bedeuten kann, aus Mitleid mit dem leidenden Silla 'süße Tränen' zu vergießen."
Olga Motta in einem Gespräch über ihre Inszenierung:
„Es mag so sein, dass es im Leben nicht die Möglichkeit gibt, dass Leidenschaften sich erfüllen, dass eine Liebe sich erfüllt. Aber wir haben die Möglichkeit, den Trost in der Musik zu finden. Und wenn es gelingt, diesen Abend so zu erleben, dass der Trost des Lebens in der Musik von Mozart liegt, ganz konkret in dem zweiten, unendlich traurigen Satz des Klarinettenkonzertes, dass also in der Trauer auch Trost liegen kann und nicht nur darin ein Trost liegt, dass alles wieder schön wird und sich ordnen lässt, wenn wir es schaffen, uns zu öffnen für diese Erfahrung, dann ist Mozart an diesem Abend geehrt. Kunst vermittelt zwischen unserem Glück und unserer Enttäuschung, sagt John Berger. Kunst kann uns aufheben und für ein lebenswertes Leben der Vermittler sein."