Schaustück und Psychodrama: Mozarts Lucio Silla - Silke Leopold

Mozart war gerade 15 Jahre alt, als er nach dem großen Erfolg seines MITRIDATE, RE DI PONTO, von der Mailänder Oper den Auftrag für eine zweite Opera seria erhielt und mit LUCIO SILLA jene Oper komponierte, die als sein erstes Meisterwerk, seine erste große psychologische Studie über die Abgründe der menschlichen Seele angesehen werden muss. Mit Giovanni de Gamerra stand ihm ein Librettist zur Seite, der das dramaturgische Regelwerk der höfischen Oper zwar beherrschte, der aber darüber hinaus ein Faible für das Schaurige und Düstere hatte: Denn auch wenn Totenbeschwörungen und Kerkerszenen zum üblichen Szenenkanon einer heroischen Oper gehörten, so ist doch die Häufung solcher Ereignisse in LUCIO SILLA bemerkenswert. 


Mozart hätte diese Szenen musikalisch nur illustrieren müssen. Ein traditioneller Kanon musikalischer Chiffren stand dafür bereit – Tonarten, die den Zuhörer augenblicklich in das Reich des Todes entführten, Rhythmen, die die Geister der Unterwelt beschworen. Mozart aber wollte mit seiner Musik etwas anders zum Ausdruck bringen: Er verlegte das Drama in das Innere der Personen und bewies dabei eine Einfühlungsgabe, die für einen Adoleszenten mehr als erstaunlich ist.


Für die Titelrolle stand ihm durch widrige Umstände nur ein wenig bühnenerfahrener Kirchensänger zur Verfügung; das mag erklären, warum der grausame Tyrann Silla mit seinen zwei eher monochromen und wenig virtuosen Arien in dieser Oper fast wie eine Nebenrolle wirkt. Die beiden Hauptrollen aber, Giunia und Cecilio, waren mit Anna de Amicis und Venanzio Rauzzini (für den Mozart später sein EXULTATE JUBILATE komponierte) glänzend besetzt. Und so ist es kein Zufall, dass Mozart gerade diese beiden Rollen in einer Weise vertonte, die allerhöchste Virtuosität mit nicht minder eindrucksvollem pathetischem Ausdruck verband. Cecilios Auftrittsarie „Il tenero momento“ und Giunias Hauptstück im II. Akt „Ah se il crudel periglio“ brennen ein Feuerwerk aller nur denkbaren sängerischen Schwierigkeiten ab und sind doch glaubhafter musikalischer Ausdruck der jeweiligen emotionalen Befindlichkeit der Personen. Aus den Briefen Mozarts und seines Vaters wissen wir, dass die beiden Sänger eng mit dem jungen Komponisten zusammenarbeiteten und ihm vermutlich auch gezeigt haben, wie er ihre besonderen Fähigkeiten am besten zur Geltung bringen konnte. 


Seine dramatischen Ideen aber verwirklichte Mozart jenseits der Bravourarie – in Arien wie „Parto, m’affretto“ im II. Akt, in der eine Giunia am Rande des Nervenzusammenbruchs über einem fast omnipräsenten, rastlos-fieberhaften Violinmotiv kaum mehr als kurze, irreguläre Satzfetzen zustande bringt und bezeichnenderweise erst bei dem Wort „spasimi“ (Krämpfe) zu Koloraturen in der Lage ist. Es sind jedoch nicht nur die einzelnen Arien, gleichsam Inseln der Affektzeichnung im Strom der Handlung, denen Mozart musikalische Gestalt gibt; es ist vor allem seine Kunst, mit den Mitteln der Musik Charaktere zu entwerfen, die über die einzelne Arie hinaus und im Kontakt mit anderen Personen konsistent sind. Giunia und Cecilio sind ein Liebespaar, beide edel und stark; es ist Mozarts Musik, die sie zu Individuen von gänzlich verschiedenem Charakter macht. Am deutlichsten wird dies in der Kerkerszene des III. Aktes, in der Mozart auf der Grundlage zweier eher konventioneller Arientexte den größtmöglichen emotionalen Gegensatz und ein Psychodrama konstruiert, das in der zeitgenössischen Oper seinesgleichen nicht hatte. Im Kerker nehmen Giunia und Cecilio Abscheid voneinander – für immer, wie es den Anschein hat. Cecilio verbirgt seine Todesangst hinter einer höfisch-nonchalanten Attitüde, für die die leuchtende Tonart A-Dur, sowie auch der Rhythmus des Menuetts und die Rondoform – beides Merkmale der französischen Musik – stehen. Noch im Angesicht des Todes ist Cecilio ein Kavalier, der die Form zu wahren weiß und die Contenance nicht verliert. 


Dagegen Giunia: Allein gelassen überlässt sie sich den schrecklichen Visionen von einem gemordeten Cecilio, der mit kaltem Finger auf seine blutende Wunde weist und sie zu sich in die Welt des Todes ruft. Anders als Cecilio, dieses Muster an Affektkontrolle, verliert Giunia in dieser Situation jegliche Contenance. Mozart macht dies durch die zweiteilige Form der Arie, durch die Instrumentation mit ihren hohlen Holzbläserklängen und durch die Tonart c-moll deutlich, die traditionell für Tod und Unterwelt stand. Und statt die Arie, wie es der Text vorsah, mit einem Da-capo zu beenden und Giunia auf diese Weise Gelegenheit zur Besinnung zu geben, beschleunigt Mozart das Tempo: Giunia stürzt förmlich dem Tode entgegen, die Vision scheint, durch die Musik artikuliert, Wirklichkeit zu werden.


Mozarts musikalische Lesart des Gamerraschen Librettos kam beim Publikum an. Mit 25 Wiederholungen nach der Uraufführung am 26. Dezember 1772 war LUCIO SILLA ebenso erfolgreich wie MITRIDATE. Die Verantwortlichen für den Theaterbetrieb mögen sich allerdings gefragt haben, ob hier nicht ein Komponist heranwuchs, der sich in den regulären Opernbetrieb auf Dauer nicht würde integrieren lassen, weil seine musikalischen Ideen zu überraschend, zu anspruchsvoll, zu individuell waren. LUCIO SILLA war der letzte Opernauftrag, den Mozart in Italien erhielt. Mozart kehrte nie wieder nach Italien zurück. 

Der Traum von einer Karriere als erfolgreicher Opernkomponist, der ihn sein Leben lang verfolgen sollte, war ausgeträumt, bevor er hätte wahr werden können.


Silke Leopold