Zur Aufführung: Olga Motta im Gespräch mit Albrecht Puhlmann

Dass das Leben selbst heilig ist, 

damit fängt es überhaupt an. (John Berger)

 

„Ich habe die Geschichtenerzähler einmal die ‚Sekretäre des Todes’ genannt. Und das, weil alle Geschichten, bevor sie erzählt werden, mit dem Ende beginnen.“ Diese Äußerung des englischen Schriftstellers John Berger stand gewissermaßen am Beginn der Auseinandersetzung mit Wolfgang Amadeus Mozarts früher Oper LUCIO SILLA – und gibt die Dramaturgie, ja die Erzählweise vor, mit der Olga Motta die nur äußerlich verwirrende Geschichte um unerfüllbare Sehnsüchte und tödliche Leidenschaften berichtet. Die Stuttgarter Aufführung von LUCIO SILLA beginnt mit dem (glücklichen) Ende, dem „lieto fine“ der barocken opera seria – um aber zu zeigen, dass das Ende selbst ganz anders ist, als  Friede und Freude in den Herzen und Seelen der Mozart’schen Helden. Hinter dieser Umstellung steht die Erkenntnis, dass Mozarts Musik zum LUCIO SILLA mehr erzählt als das Libretto vorgibt. Sie geht über die Intrigenwirtschaft der Barockoper weit hinaus. Die Haupt- und Staatsaktion um den römischen Diktator Lucio Silla bildet nur die Folie für ganz existentielle, unmittelbar den einzelnen Charakter betreffende Gefühle.


Schon das erste Hören dieser Musik eines noch 16-Jährigen zeigt, „zu welchen Finessen der musikalischen Menschendarstellung Mozart (scheinbar plötzlich) fähig war“ (so die Musikwissenschaftlerin Silke Leopold). Diese Oper dringt zum ersten Mal in neue Bereiche der musikalischen Darstellung vor. Mit Lucio Silla hat Mozart sein Thema gefunden: Unbedingtheit in der Liebe; der Zweifel an ihr; die Verzweiflung, die daraus resultiert; die Sehnsucht, die keine Intrige scheut, diesen Zweifel aus der Welt zu schaffen. Der  Realismus“, mit dem Mozart diese menschliche Leidenschaft musikalisch hörbar macht, ist schmerzlich. In den exorbitant schweren Arien stürzen die Figuren  förmlich dem Tod entgegen. 


Die Figuren sind in einem unentwirrbaren Beziehungsgeflecht verfangen. Der römische Imperator Lucio Silla und der von ihm in die Verbannung geschickte Cecilio lieben beide Giunia, die Tochter von Lucio Sillas ärgstem Feind. Sillas Schwester Celia wiederum liebt Cinna, den engsten Freund Cecilios. Beide Freunde bekämpfen den Diktator ... Ein stummer Zuschauer aber und Begleiter der Figuren macht das politische und amouröse Durcheinander hinfällig: Es ist der Tod als Verführer, Freund und Verderber, der den Gang der Dinge begleitet. 


LUCIO SILLA ist ein Stück über die große, die unerfüllte Sehnsucht. Sehnsüchte, die unerfüllt bleiben bis zum Schluss. Und ein Stück über das Feuer der Leidenschaften, die die Menschen im Grunde genommen zerreißen und am Ende erlöschen lassen. 


Lucio Silla, Cecilio und Giunia, Cinna und Celia, diese fünf sind die Helden der Oper. Helden der Sehnsucht nach Freiheit, Treue, Liebe, Tod. Alle fünf Helden sind gradlinig, direkt und hoch leidenschaftlich in ihren Gefühlen. Aber sie sind nicht frei. So wie wir im Leben auch nicht „frei“ sind. Unsere Figuren vergehen einsam in ihren Sehnsüchten und Wünschen. Ein Gedanke wird für die Inszenierung dabei bestimmend: Der Tod und die Liebe sind einander in ihrer Absolutheit verwandt.


Zu den Figuren


Lucio Silla liebt Giunia über alle Maßen, was es ihm unmöglich macht, seine eigentliche Macht tatsächlich zu gebrauchen, denn in der Nähe dieser Frau wird er schwach. Also ist er ein liebender Mann und kein Herrscher mehr. Die zwei anderen Paare Cecilio und Giunia, Celia und Cinna mit ihren Leidenschaften eines hohen und eines niederen Paares, diese verschiedenen Leidenschaften, für die unsere Helden brennen, sollen wirklich mit Feuer erzählt werden. Es gibt demnach verschiedene Arten von Feuer.


Cecilio, der Verlobte Giunias, leidenschaftlicher Verehrer ihres Vaters, ist schlicht überfordert – könnte er doch einfach der Liebende sein! Aber es ist nicht möglich. Er muss den Vater rächen, er ist von Giunias Vater besetzt, nicht mehr frei. Mozart hat sich, so stellen wir uns vor, darin mit Cecilio identifiziert. Cecilio – der liebende Knabe – ist lauter Zwängen unterworfen ... So kommt es, dass das Feuer, das in Cecilio lodert und flackert, lichterloh brennt – aber es wärmt nicht! Es wärmt die arme Giunia nicht. Das, wonach sie sich eigentlich sehnt, Geborgenheit, kann er ihr nicht geben. 


Giunia, zu Cecilio gehörig und ihm durch ihren Vater versprochen (und an dieses Gelübde fühlt sie sich gebunden), ist in höchstem Maße todessehnsüchtig. Sie hat mit ihrem Leben abgeschlossen, ist verbittert und enttäuscht. Deshalb gehört ihr das Totenlicht. Aber auch diese Todessehnsucht ist eine große Leidenschaft, die sehr weit geht. Giunias Todessehnsucht ist so groß, so gewaltig, dass daraus eine Macht entsteht, die sie über den Liebenden Silla hat – und von dieser Macht macht sie Gebrauch.


Cinna ist der Revolutionär im Stück, der Stürmer und Dränger. Er selbst brennt ebenfalls lichterloh für die Freiheit. Cinna als großer Freiheitskämpfer möchte Rom von seiner Tyrannei befreien, er hat als Einziger einen Plan, aber auch er geht an ihm zugrunde. Ich glaube, dass Cinnas Liebe die Liebe zur Freiheit ist.


Celia, die Schwester von Lucio Silla, ist die große Liebende im Stück im Sinne der Zuneigung und Hinwendung sowohl zu ihrem Bruder als auch zu ihrem Geliebten Cinna. Sie ist die reine Güte des Herdfeuers, ihre Liebe wärmt tatsächlich. Und es ist grausam, dass auch sie ganz traurig zu Grunde gehen muss. Alles, was sie sagt, ist bezogen auf andere. In Liebe zu ihrem Bruder ist ihre Musik rein und schön. Sie  widerspricht dem eigentlichen Librettotext, in dem sie intrigant oder gar falsch wirkt. Doch Sanftmut und Innigkeit zeichnen sie aus.


Zum Erzählten


Unsere fünf Leidenshelden gehen an ihren Leidenschaften zugrunde, ohne sich mit ihnen einrichten zu müssen. Das erscheint uns ganz wichtig: Die Jugendlichkeit unserer Sänger ist die Jugendlichkeit ihrer Rollen, die Mozart ganz aus seiner eigenen Erlebniswelt als fast 17-Jähriger erschaffen hat – dieses Stürmische, was noch nicht in bestimmte Bahnen gelenkt ist, noch nicht vom Leben verdreht wurde. Sie sind alle pur, unglaublich direkt, rein in dem, was sie empfinden und ausdrücken. Diese Reinheit des Ausdrucks hat in den Figuren selbst keinen Widerspruch. Die Brüche erfolgen durch die Erfahrung und Gelassenheit, die Unerbittlichkeit und die Abgeklärtheit des Todes. 


Die Szenen auf der Bühne sollen sehr direkt und anrührend sein. Alle sind frei von Schuld, und wenn Cinna die Gestirne besingt, den Mars und den Jupiter und seine Arie damit endet, dass er sagt: „Nur der lacht dem Tod ins Gesicht, dessen Herz frei von Schuld ist“, dann nimmt dieser wunderbare Mensch tatsächlich an, dass sein Herz frei von Schuld sei. Die Geschichte hat uns über Revolutionäre und ihren Wahn, für eine Idee zu sterben, eines Besseren belehrt. Hier in dieser Oper von Mozart wird nach den Folgen aber nicht gefragt, und so bekommt die Arie, in seiner letzten Stunde gesungen, nochmals eine ganz andere Dimension.


Oper macht etwas möglich, was es im Leben vielleicht nicht gibt: Dass die Liebenden im Tod erlöst sind. Durch die Entdeckung, dass die Melodie von „Pupille amate“, Cecilios Sterbe-Arie, dieselbe Melodie hat wie der zweite Satz des Mozartschen Klarinettenkonzerts, können wir einen Bogen schlagen, der den frühen Mozart und den späten in eins fasst und vielleicht noch viel mehr darüber hinaus aussagt. Deshalb singt Lucio Silla dieses „Pupille amate“ nochmals so, wie man ein Kinderlied singt. Er singt es wie ein Vater, der seinen Kindern ein Schlaflied singt. Nur, dass diese Menschen tot sind. Und dann fängt es an zu schneien, und mit dem Schneien beginnt das andante des Klarinettenkonzertes. Es schneit, und die Toten sind still. Der Tod deckt die Liebenden mit einem Tuch zu. Die Paare beginnen zu leuchten. Es findet womöglich eine Metamorphose statt?


Es mag so sein, dass es im Leben nicht die Möglichkeit gibt, dass Leidenschaften sich erfüllen, dass eine Liebe sich erfüllt. Aber wir haben die Möglichkeit, den Trost in der Musik zu finden. Und wenn es gelingt, diesen Abend so zu erleben, dass der Trost des Lebens in der Musik von Mozart liegt, ganz konkret in dem zweiten, unendlich traurigen Satz des Klarinettenkonzertes, dass also in der Trauer auch Trost liegen kann und nicht nur darin ein Trost liegt, dass alles wieder schön wird und sich ordnen lässt, wenn wir das schaffen, uns zu öffnen für diese Erfahrung, dann ist Mozart an diesem Abend geehrt. „Kunst vermittelt zwischen unserem Glück und unserer Enttäuschung“, sagt John Berger. Kunst kann uns aufheben und für ein lebenswertes Leben der Vermittler sein.