Inszenierung

DAS THEMA

Abschied und Reise als Ausdruck der Heimatlosigkeit und Verlorenheit sind die zentralen Themen von „Fremd bin ich...“ – Themen, die sich zum einen in Schuberts Liedern wiederfinden, zum anderen aber auch die Schicksale der Protagonisten auf unterschiedlichste Art und Weise prägen. Auch Schubert war ein einsam Reisender; er steht im Zentrum des Abends – aber auch jeder, der aus der Heimat vertrie- ben wurde, der Verfolgung und Unterdrückung erleiden musste, die großen und kleinen Außenseiter, Randfiguren, Ausgestoßene der Gesellschaft. Ihnen allen gibt Schubert mit seiner Musik, mit seinen Liedern, eine Stimme – eine Stimme der Erinnerung, die Kraft gibt zum Weiterleben. Der Reisende ist ein rastlos Suchender nach dem Glück, nach dem inneren Frieden, der Erfüllung: 


„DORT, WO DU NICHT BIST; DORT IST DAS GLÜCK“ (Der Wanderer)


DIE MUSIK

Die Musik Franz Schuberts ist das Kraftzentrum dieses innovativen und experimentellen Umgangs mit dem klassischen Lied. In der poetischen Verbindung von Musik, Tanz, Licht und Szene erscheinen Schuberts Lieder in einem neuen Kontext und erhalten einen sehr aktuellen und unmittelbar greifbaren Bezug zum Hier und Jetzt. Die szenische Realisierung will Schuberts Lieder für ein neues Publikum öffnen und zugänglich machen und den Zugang zur vermeintlich schwierigen Gattung Kunstlied er- leichtern. Für den Kenner und Liebhaber von Schuberts Musik bietet der Abend ein anderes Seh- und Hörerlebnis, das ihn die Lieder neu und anders entdecken lässt.


DER ORT

Ein leerer, schwarzer Raum nirgendwo und überall, Kaffeehaus und Bahnhofswartesaal, Kneipe und Transitraum. Menschen kommen und gehen – woher, wohin, keiner weiß es, keiner fragt danach. Ein Raum der Verlorenheit, ein Unort, Ort der Fremde und der Fremden, fern der Heimat: „Ich bin ein Fremdling überall“ ... „Wo bist du, mein geliebtes Land?“ – Ein Niemandsland, Ort der Gestrandeten und Verlorenen, der Reisenden und Suchenden, Durchgangsort, aber auch Ort der Sehnsucht und Träume, wandelbar in der Fantasie und in der Musik – ORT DER ERINNERUNG.


DER ERSTE TEIL

„FREMD BIN ICH EINGEZOGEN, FREMD ZIEH ICH WIEDER AUS...“ – wie ein Rahmen steht dieses Lied aus Schuberts „Winterreise“ am Anfang und am Ende des Abends. Mit dem gesungenen Lied beginnt der Abend. Ausklingen wird er mit der Melodie ohne Worte. Das ICH, die Stimme, verstummt. Die Bratsche übernimmt die Singstimme. Mit dem Verschwinden der Singstimme verschwindet auch Schubert in seiner Musik, geht in ihr auf: 


„BALD SCHLAF ICH IHN; DEN LANGEN SCHLUMMER; DER MICH ERLÖST VON ALLEM KUMMER“ (Nachtstück).


Im Zentrum des ersten Teils steht das gesungene Lied. Wir begeben uns auf eine Lebensreise. Die Wartenden werden zu Musikern, aus dem Wartesaal wird ein Klangraum. Der Raum und die Akteure befinden sich in ständiger Veränderung, durchlaufen Metamorphosen, verwandeln sich – so wie der Mensch im Leben einem ständigen Wandel unterworfen ist. Der besondere Reiz des Raumes – und der Inszenierung – liegt darin, dass er in der Fantasie der Akteure und der Zuschauer immer neue Formen annimmt, zum Traum werden kann, aber auch zum Alptraum. Die Lieder reiben sich an der Alltäglichkeit der Handlungen: Das Servierfräulein bedient die Gäste, verstaut Gepäck (Geigenkästen, Koffer...), wischt Tische ab, spült Gläser, schäkert mit den Wartenden.

In seiner Einsamkeit und Verlassenheit gefangen, sitzt der Reisende am Tisch, trinkt einen Kaffee nach dem anderen (oder auch Absinth...), liest Zeitung – und beginnt zu singen und sich singend zu erinnern: „FREMD BIN ICH EINGEZOGEN“. Die einzige Sprache, die ihm geblieben ist, ist die Musik. Der einzige Kontakt zur Welt ist das Servierfräulein. Sie wird zur Projektionsfläche seiner Gedanken und Träume, zum Gefäß, das seine Musik mit neuem Leben erfüllt.

Das Servierfräulein ist anfangs die naive Unschuld. Ihr ist die Musik des Fremden, sind seine Erinne- rungen und Erfahrungen zunächst ganz fremd. Eine eigenartige Faszination geht aber von beiden – von Mann und Musik – aus. Neugier und Faszination ziehen sie zu diesem Wanderer hin. Unbeküm- mert greift sie die Musik auf, macht sie sich mit ihrer eigener Sprache – dem Tanz – zueigen, geht auf Entdeckungsreise in der Musik. Diese Entdeckungen sind nicht immer nur schön. Im Gegenteil. Zum Teil sind sie sehr schmerzhaft, erschreckend, verstörend. Je wissender der Mensch um die Abgründe seines Seins wird, desto größer sind der Schmerz, die Bestürzung und die Sprachlosigkeit darüber.


„Erinnerung ist das Geheimnis der Erlösung“ Jüdische Weisheit



DER ZWEITE TEIL

Im zweiten Teil steht Schuberts Lied „DER TOD UND DAS MÄDCHEN“ im Zentrum. Das Servier- fräulein wird zum Mädchen und zur zentralen Figur. Sie übernimmt die Sprache des Reisenden/ Wanderers, trägt das Lied vor – mehr als Sprechgesang, denn im klassischen gesungenen Sinne. Während sie das Lied vorträgt, ist es, als erlebe sie die Geschichte des Mädchens, das dem Tod begegnet, am eigenen Leib. Eine Todeserfahrung – mit dieser Erfahrung wird das Serviermädchen wissend um all das Elend in der Welt, das Elend widerfährt ihr selbst. Eine Erfahrung, die sie bislang noch nicht kannte. Sie schaltet ein Radio ein – zur Ablenkung, um das Erlebte ungeschehen zu machen? Aber wieder erklingt Schuberts Musik. Man hört eine Einspielung von Schuberts Streich- quartett „DER TOD UND DAS MÄDCHEN“ (2. Satz) in einer Aufnahme des legendären Busch Quartetts. Die Musik aus dem Radio/die Tonkonserve ist wie eine Botschaft aus dem Exil. Nach und nach steigen die Musiker auf der Bühne ein, übernehmen die Stimmen aus dem Jenseits, bevor diese im Radio zerfallen, und spielen den Satz live zu Ende. VERLORENHEIT – tiefste Er- niedrigung, größtes Elend und Schmerz finden sich in Schuberts Musik wieder. Da wo die Stimme versagt, weil nur noch das Schweigen steht, verleiht die Tänzerin diesen Empfindungen, diesem Moment der Sprachlosigkeit in ihrer Bewegung Ausdruck. Die Begegnung mit dem Tod hat für das Mädchen (die Tänzerin) – und für das Publikum – eine Tür geöffnet, die einen Blick in die Abgründe der menschlichen Seele und der (deutschen) Geschichte wirft. Das Wissen um den Schmerz und das Elend in der Welt verändert die Tänzerin. Nichts wird mehr so sein wie zuvor.


Alles könnte hier zu Ende sein. Was könnte nach dem Moment der tiefsten Verzweiflung und Erniedrigung noch kommen. Eine Sackgasse, der Weg ist zu Ende. Aber das Leben geht weiter und der Mensch muss mit seinen Erfahrungen und Erinnerungen leben lernen. Es gibt immer noch ein danach. Aus dem tiefsten Keller retten wir uns hinüber in den Alltag. Das Alltägliche gewährt uns Schutz, vorübergehend zumindest. Wir üben uns darin. Was bleibt ist die Erinnerung und das Leben mit ihr, denn: WIR VERGESSEN NICHT; WIR STELLEN UNS DER ERINNERUNG – und können so weiterleben. Die Tür schließt sich wieder.

Am Schluss bleibt die BRATSCHE übrig. Sie erhebt sich mit ihrer Melodie und verlässt das Schwe- re, Alltägliche. Am Ende bleibt die Musik in ihrer unendlichen Schönheit:

„FREMD BIN ICH EINGEZOGEN...“ – ein Hoffnungsschimmer, immerhin.

Schuberts Lieder weisen weit über das rein Biografische, das ihnen zugrunde liegt, hinaus. Der Abend will eine Spannung herstellen zwischen der Sehnsucht nach dem Glück, dem Verlust von Geborgenheit und der Notwendigkeit sich zu erinnern.


„Liegt nicht darin vielleicht des Lebens Vollendung, dass man im Nicht-Ich rückhaltlos aufgeht und kein Ich mehr zurückbleibt, das dem Tode verfällt?...“ Bernard Berenson, Entwurf zu einem Selbstbildnis

Dr. Cornelia Weidner