Von Kunst und Tränen - Zur Gattung der Opera Seria -
Angela Beuerle

„… ho veduto pianger gli orsi“ – „ich habe die Bären weinen gesehen“, schreibt der Librettist Pietro Metastasio am 12. Januar 1732 über die Wirkung einer Szene seines DEMETRIO. Diesen Effekt hervorgerufen haben soll der sich steigernde Aufbau einer Folge von secco-Rezitativ, begleitetem Rezitativ und Arie, sekundiert von den szenischen Aktionen Sitzen (secco-Rezitativ), Knien (begleitetes Rezitativ) und Stehen (Arie) – eine Schilderung, die aus heutiger Sicht wenig dazu beiträgt, die starke emotionale Reaktion der Publikums verständlich zu machen. Sie verweist vielmehr darauf, dass wir es bei der opera seria – denn von einer solchen ist hier die Rede – offensichtlich mit einem Genre, einem Kunstverständnis und einer Theaterrealität zu tun haben, die uns zwar grundsätzlich bekannt und doch unendlich fremd scheinen.

Eine Verbindung zu dieser einstmals so populären Form der Oper lässt sich heute vielleicht am ehesten in Mozarts Kompositionen finden – späte und im Fall von IDOMENEO auch untypische Werke der Gattung. Die Zusammenführung seiner drei seria-Opern LUCIO SILLA, IDOMENEO und LA CLEMENZA DI TITO in dieser Spielzeit in Stuttgart ist daher auch als Möglichkeit einer solchen Annährung zu verstehen. 


Die Zeit der opera seria ist das 18. Jahrhundert. Wie vielleicht keine andere künstlerische Form in diesen Jahren ist sie Ausdruck und Reflexion der sozialen Realität dieser Epoche, Bild ihrer Wünsche und Ideale, Teil und Schablone ihrer Zeremonien und affektiven Verhaltensweisen. In der Herkunft genuin italienisch, war die opera seria in weiten Teilen Europas, von London bis nach St. Petersburg zentraler Teil des kulturellen und gesellschaftlichen Lebens. Trotz breiter Rezeption ist ihre Ausrichtung höfisch, ihr Impetus rationalistisch, auch aufklärerisch und ihr künstlerischer Formwille findet sein Echo in der Antikenrezeption der Zeit. Es wundert nicht, dass die opera seria die Französische Revolution kaum überdauerte und in der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts keinen Platz fand. Und es wundert auch nicht, dass wir uns heute, geprägt von der Erfahrung der romantischen Kunstauffassung, schwer tun, die Faszination und Lebenswirklichkeit eines Theaters zu verstehen, dessen Natürlichkeit künstliche Nachahmung ist, das, gesellschaftlich affirmativ, weder individuell noch einmalig sein will und doch auf den Anspruch eines hohen ästhetischen und moralischen Auftrags nicht verzichten möchte.

 

Wichtigster Repräsentant der Gattung war der Dichter Pietro Metastasio (1698–1782), und es ist kein Zufall, dass hier ein Librettist und nicht ein Komponist zu nennen ist. Denn zumindest in ihren ersten Jahrzehnten wird die opera seria aufgefasst als ein in Musik gesetztes Schauspiel, ein dramma per musica, wie ihre Bezeichnung auch lautet. Im Mittelpunkt steht der Inhalt der Handlung und die Art ihrer Präsentation, die Reihenfolge der Szenen, der Aufbau der Intrige und ihre Lösung. Bestimmt wird der Handlungsverlauf durch stereotype formale Vorgaben, wie etwa die typische Abfolge von secco-Rezitativ, begleitetem Rezitativ und da-capo-Arie, der als „chiaroscuro“ (helldunkel) propagierte Wechsel von starken und weniger starken Affekten, eine feste Personenkonstellation und schließlich die Wahl der Themen, die entsprechend der Tragödie das Heroische bedienten, wobei anders als bei dieser ein „lieto fine“, ein ‚frohes Ende’ vorgesehen war. Und überhaupt sollte das Schöne und Erhabene, nicht das Schreckliche und Hässliche die Darstellung auf der Szene bestimmen. Dieses „Drama für Musik“ bildete in seiner Formalität die Grundlage und Konstante der opera seria. Seine Variation, oft auch mit Eingriffen in den Text, stellten dann die verschiedenen Vertonungen dar, die häufig nur in einer Saison gespielt wurden und dann von neuen Kompositionen abgelöst wurden – beinahe so, wie heute die verschiedenen Inszenierungen eines Stückes. Und am Abend der Aufführung dann konnten sich die Sänger, wie der berühmte Kastrat Farinelli, die vordergründige Einförmigkeit der Struktur zunutze machen und etwa im Wiederholungsteil einer da-capo-Arie ihrer Virtuosität freien Lauf lassen. Die opera seria lebte so aus einem Zusammenspiel von Variabilität und fester Form, sie war weniger Partitur als Theaterereignis und ist auch daher in ihrer Wirkung nach über 200 Jahren so schwer rekonstruierbar.


Doch erschöpfte sich der künstlerische Anspruch des dramma per musica nicht darin, Anlass und Rahmen eines festlich-theatralen musikalischen Schauspiels zu sein. Das ästhetische Programm der opera seria wurde vielmehr getragen von einer moralischen Absicht – das Horaz’sche „prodesse et delectare“ galt auch dem Dichter Metastasio als Grundlage seines künstlerischen Selbstverständnisses. Theoretisch formuliert findet sich dies in einer erst kurz vor seinem Tod erschienen Abhandlung über die POETIK des Aristoteles. Metastasio begründet hier seine Auffassung von Kunst als „verisimile“, als eine Nachahmung, nicht Darstellung der Natur – eine Kunst also, die ihre künstliche Sphäre nie verlässt. Denn es wäre lächerlich, so Metastasio, würde man einen Hirten oder Bauern auf der Bühne in ihrer tatsächlichen Sprache und Verhaltensweise darstellen, statt auch diese Figur mit dem „edlen theatralischen Anstand“ auftreten zu lassen. Als Ziel der Tragödie, als welche das dramma per musica zu verstehen ist, nennt Metastasio in Anlehnung an Aristoteles die katharsis, die Läuterung der Seele des Zuschauers, wobei er sich dagegen ausspricht, dass diese durch Schrecken und Furcht hervorgerufen werden müsse. Auch eine Identifikation mit dem Leid, dem Liebesschmerz einer Figur, verursacht durch tragischen Konflikt, durch innere Zerrissenheit oder edlen Verzicht, mögen in der Lage sein, katharsis zu bewirken. Ausdruck dieses die Seele reinigenden ‚Mit-Leidens’ sind die Tränen, die im 18. Jahrhundert von Frauen wie von Männern ohne Scham vergossen wurden.

Auf diese Weise gab die starke Formbetontheit der opera seria Raum für eine teilweise extreme innere Bewegtheit, wobei der ständige Verweis auf die Situation des Theatralen die nötige Distanz schuf für ein immer wieder neues Versenken in die Emotion. Diese enge Verbindung von ausgestellter Künstlichkeit und unmittelbarem Affekt macht das Faszinierende und heute vielleicht auch Befremdliche dieser Gattung aus. Und so erscheint die opera seria wiederum als ein Produkt ihrer Zeit, in der ein Voltaire für eine kritisierende Vernunft eintrat, während ein Rousseau oder Pascal zugleich auf die Irrationalität des Herzens verweisen konnten. Solchermaßen ist die opera seria Ausdruck und Träger eines bestimmten Menschenbildes: Eines Menschenbildes, dem die Idee einer Verbesserung, einer Adelung des Menschen durch die Kunst eignet, das den hohen Stil, den „edlen theatralischen Anstand“ nicht zum künstlerischen Selbstzweck erhebt, sondern ihm zugleich die erzieherische Funktion zuschreibt, den Zuschauenden Vorbild für ihr eigenes Denken, Sprechen und Handeln zu sein – eine Funktion, die angesichts der damaligen Lebenswirklichkeit, in der das Theater mit derselben Häufigkeit frequentiert wurde wie heute etwa das Kino, in ihrer Wirkung durchaus nicht so abwegig erscheint. Und schließlich gehört zur opera seria auch das ethische Konzept der compassio, der ‚süßen Tränen’, der Läuterung der Seele durch die mitleidende Anteilnahme am Leid anderer – eine Idee, die bereits in Mittelalter und früher Neuzeit im religiösen Kontext zu finden ist und um den Beginn des 18. Jahrhunderts in den säkularen Bereich übertragen wurde. 


Metastasios Abhandlung zur POETIK des Aristoteles ist eine Art Manifest der opera seria und zugleich ihr Abgesang. Denn in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts begannen sich gattungsinterne Veränderungen abzuzeichnen. So lässt sich eine immer größere Variabilität und Abwechslung in der formalen Gestaltung beobachten, etwa durch die Hinzunahme anderer Arientypen wie die Canzonetta und das Rondò, durch die allmähliche Integration von Duetten und größeren Ensembles sowie die feste Einbeziehung des Chores. In Bezug auf den Stoff zeigt sich die Tendenz, neben dem Erhabenen und Schönen auch dem Dunklen und Schrecklichen immer mehr Raum zu geben, was sich in einer zunehmenden Hinwendung zu den so genannten ombra- und sotterraneo-Szenen, Szenen auf Friedhöfen oder im Kerker, äußert. Vor allen Dingen aber vollzieht sich in dieser Zeit ein Wandel im Verhältnis von Libretto und Musik: Die opera seria wird immer weniger als ein in Musik gesetztes dramma, sondern als eine mit Text versehene opera wahrgenommen. Die Bedeutung des Komponisten und die Einmaligkeit der musikalischen Komposition werden zum entscheidenden identitätsstiftenden Moment des Werkes, weshalb sich auch mit Reinhard Strohm sagen lässt, dass die Epoche Metastasios da vorbei ist, „wo sich Metastasio und Mozart die Hand reichen“.


Als Mozart 1772 mit LUCIO SILLA  nach MITRIDATE RE DI PONTO (1770) seine zweite opera seria komponierte, stand Metastasio noch in hohem Ansehen. So schickte ihm auch der Librettist des LUCIO SILLA, Giovanni de Gamerra, seinen Text zur Begutachtung, woraufhin Metastasio „vieles verbessert, abgeändert, und eine ganze Scena im 2ten act beygesetzt“ hat, wie Leopold Mozart nach Hause berichtet. Trotz deutlicher Merkmale der jüngeren seria-Zeit haben wir es also mit dem Textbuch einer echten opera seria zu tun und auch Mozarts Komposition folgt ganz den Regeln der hierfür vorgegebenen Konventionen. Und doch und gerade darin zeigt sich das so schwer formulierbare Besondere des Mozart’schen Komponierens: die Komplexität und Reinheit in der musikalischen Zeichnung der Figuren und ihrer Gefühle wirken so präzise, lebendig und aufwühlend direkt, dass sie uns über die Zeiten hinweg auch in dem inzwischen ungewohnten Gewand dieser opera seria unmittelbar berühren und damit eine Möglichkeit zur Identifikation geben. War Mozart seinen Zeitgenossen kaum als ein besonders herausragender seria-Komponist bekannt, so sind es nun seine Kompositionen, die es am ehesten vermögen, die Wirkungen und Ideale, die die opera seria für ihr damaliges Publikum haben sollte, auch heute noch zu vermitteln. 


Die Gelegenheit einer solchen Erfahrung gibt diese Inszenierung. Und während das goldgerahmte „lieto fine“ am Anfang des Abends deutlich werden lässt, wie viel (Opern‑)Geschichte zwischen uns und einer Zeit liegt, die eine Tragödie programmatisch mit einer frohen Lösung aller Konflikte beschließen konnte, werden wir vielleicht am Ende verstehen, warum es eine Läuterung der Seele bedeuten kann, aus Mitleid mit dem mitleidenden Silla süße Tränen zu vergießen. 


Angela Beuerle